Kennst Du das? Du bist allein an einem Ort mit vielen Menschen, z.B. bei einem beruflichen Empfang oder einer Party. Alle stehen in Grüppchen zusammen, unterhalten sich, lachen. Vielleicht kennst Du sogar ein paar Leute. Ein schöner Ort, ein schönes Ambiente und für Dich ist es Stress pur. Du fühlst Dich unsicher, obwohl die äußeren Umstände nicht wirklich bedrohlich sind. Unsicherheit kann beispielsweise bedeuten, dass Du Dich von anderen beobachtet fühlst, Du Angst hast, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten oder Dich selbst für Deine eigene Unzulänglichkeit, mit Gruppen umzugehen, fertig machst.
Mit Herausforderungen konfrontiert, ist unser Körper wie ein Lügendetektor.
Vielleicht hast Du auch schon die Erfahrung gemacht, wenn Du Dich nicht sicher in einer Situation fühlst, machst Du Dich vielleicht am liebsten unsichtbar, damit ja keiner bemerkt, dass Du hier allein bist (nennen wir es Erstarren) oder überlegst Dir, wie Du möglichst schnell wieder wegkommst (nennen wir es Flucht) oder Du beobachtest Deine Umgebung sehr genau und grübelst, wie Du am besten Kontakt vermeidest und die Leute möglichst fern von Dir hältst (nennen wir es Kampf). Was auch immer Deine präferierte Strategie ist, solange Du Dich unsicher fühlst, wird es schwierig, mit anderen in Kontakt zu kommen.
Wir tragen ein evolutionäres Erbe in uns
Eine Erklärung liefert unsere menschliche Entstehungsgeschichte. Im Laufe der evolutionären Entwicklung von Reptilien zu Säugetieren entwickelte sich das zentrale Nervensystem, mit dessen Hilfe Säugetiere feststellenkönnen, ob eine Situation sicher ist, also ob sie sich gefahrlos anderen Artgenossen annähern können. Das ist evolutionär höchst sinnvoll: Säugetiere benötigen in Zeiten besonderer Verletzlichkeit während der Schwangerschaft oder der Pflege ihrer Nachkommen besonderen Schutz durch andere zum überleben. Auch müssen sie sich annähern, um sich fortzupflanzen. Deshalb ist es für ihren Fortbestand entscheidend, ob sie in der Lage sind, ihre instinktiven Devensivstrategien von Kampf, Flucht oder Erstarren abzuschalten, um sich anderen Artgenossen anzunähern. Andere Artgenossen sind erst einmal potentielle Feinde, also eine Bedrohung. Soziales Engagement bei Säugetieren setzt voraus, dass sie Anspannung regulieren können, um in einen ruhigen Zustand zu gelangen. Denn nur dann können sie wahrnehmen, ob vom Gegenüber tatsächlich eine Bedrohung ausgeht. Säugetiere sind in der Lage, eigene emotionale Zustände zum Ausdruck zu bringen und zu signalisieren, ob es gefahrlos möglich ist, sich ihnen zu nähern und in Kontakt zu treten. Stell Dir beispielsweise den Kontakt mit einem Hund vor. Mit etwas Erfahrung kannst Du einschätzen, ob Du ihn streicheln kannst oder es besser lässt. Für das Gefühl von Sicherheit sind körperliche Erregungszustände, emotionales Empfinden, Mimik und stimmlicher Ausdruck bei sich selbst und dem gegenüber wesentlich. Wir können diese nonverbalen Signale blitzschnell wechselseitig lesen und reagieren darauf. Nur wenn sich beide Seiten in einen angenehmen sicheren Zustand regulieren können, gelingt der Annäherungsprozess.
Den Körper mehr in den Fokus nehmen: wir sind einfacher gestrickt als wir denken
Der Psychiatrieprofessor und Neurobiologe, Steven Porges, hat nachgewiesen, dass wir Menschen dieses Erbe nach wie vor in uns tragen und es uns mehr bestimmt, als wir es gerne wahrhaben möchten. Das steht im krassen Widerspruch zu unserer Kultur. Unser gesamtes Erziehungssystem ist auf das Denken und die Förderung der geistige Entwicklung ausgerichtet. Körperempfindungen oder gar Bewegungsimpulse werden als eher zweitrangig oder sogar als hinderlich betrachtet. Wir werden erzogen in dem Glauben, dass vor allem das Denken unser Fühlen und Handeln beeinflusst (Das Bewusstsein bestimmt den Körper). Steven Porges stellt diesen Zusammenhang von den Füßen auf den Kopf. Er reiht sich damit in eine Reihe von Neurowissenschaftlern ein, federführend ist hier António Damásio, die nachweisen können, dass Körper der Ausgangspunkt für unsere Empfindungen, Handlungen und das Denken ist: Ich fühle also bin ich.
Zurück zur Geburtstagsfeier: Es ist nicht entscheidend, ob die Umgebung „objektiv“ sicher ist, sondern wie Dein Nervensystem auf Deine Umgebung reagiert. Beginnt Dein Herz schneller zu schlagen, Dir wird heiß, Du errötest und spannst Dich an oder Du reagierst ganz anders: Du wirst ganz starr, machst Dich klein, Deine Atmung wird flach und fühlst fast gar nichts mehr, maximal drehen sich Deine Gedanken im Kreis und suchen nach einem Ausweg aus dieser verfahrenen Situation? In diesem Moment wird ganz deutlich, deutlicher als vielleicht in Deinem normalen Alltag, deine „Biologie“ übernimmt die Regie. So fühlt sich Unsicherheit körperlich an. Solange Du ein unsicheres Grundgefühl hast, Du ängstlich und aufgeregt bist, signalisiert Dein Nervensystem unterschwellig „Gefahr“. Du beobachtest Deine Umgebung durch eine Brille der „Bedrohung“. Instinktive Defensivstrategien von Kampf, Flucht oder Erstarren kommen an die Oberfläche. In diesem körperlichen Zustand sind soziales Engagement, Kontakt und eingestimmte Kommunikation nur schwer möglich. Du selbst signalisiert auch diesen alarmierten emotionalen Zustand, so dass sich andere lieber von Dir fernhalten. Das passiert mehr oder weniger automatisch und oft unterschwellig. Jedoch reagierst Du selbst und andere wechselseitig darauf. Das ist im menschlichen Nervensystem so angelegt. Selbst wenn Du Dir immer wieder gut zuredest „Ja ich weiß, ich habe Stress mit Gruppen, das ist aber albern, ich kenne hier die Hälfte der Leute, jetzt stell Dich mal nicht so an und sprich jemand an“. Mit Wissen und Erkenntnis stehst Du in diesem Moment auf verlorenem Posten. Jetzt ist das Stammhirn aktiv, das auf dem Entwicklungsstand eines Reptils stehen geblieben ist und nur Kampf, Flucht und Erstarren als Handlungsmuster kennt. Mit dem Stammhirn kann man nicht reflektiert und differenziert in einen Dialog treten. Das wird scheitern. Und vermutlich hast Du bereits selbst diese Erfahrung gemacht. In emotional herausfordernden Situationen kommt der Körper viel mehr ins Bewusstsein: Dir wird heiß, Du fängst an zu schwitzen, Du wirst rot oder Du erstarrst, fühlst Dich handlungsunfähig. Aber auch im Alltag reagiert Dein Nervensystem auf Umweltreitze und legt die Grundlage für Dein weiteres Denken und Handeln.
Sicherheit ist entscheidend
Sicherheit ist die entscheidende Komponente für das Gelingen von sozialer Interaktion. Wir brauchen eine sichere Umgebung, die wir selbst und andere als sicher wahrnehmen, um uns zu entspannen, uns auf das Gegenüber einzustimmen und anzunähern. Egal ob Du in Kommunikation mit Deinen Kindern über die Hausaufgaben kommen oder mit einer Kollegin ein privates Gespräch führen möchtest, braucht es ein von beiden Seiten als sicher empfundenes Grundsetting, um in Kontakt und in den Austausch zu kommen. Frage Dich dafür, was Du brauchst, um Dich sicher zu fühlen und was Dein Gegenüber brauchen könnte. Und für die Geburtstagsfeier gilt: fange klein an. Wenn Du Stress mit großen Gruppen und Small-Talk hast, setze Dich dem möglichst nicht aus. Ziehe Sicherungszäune ein, minimiere die Irritationsquellen, stelle möglichst viel Sicherheit her: Was machst Du wirklich gerne? Wo hast Du viel Wissen und hast was zu sagen? Wo triffst Du auf Gleichgesinnte? Deine Spielwiese ist erst einmal dort, wo Du Dich zu Hause fühlst. Ein Beispiel: wenn Du gerne liest, könnte Deine Challenge sein, ab und zu zu einem Lesekreis zu gehen, die über ein Buch, das alle gelesen haben, diskutieren. Begrenze das Spielfeld und sorge für möglichst viele Komponenten, die Dir Sicherheit geben.
Ich habe beschlossen, dass Small-Talk schlicht für mich nichts ist. Ich lasse es einfach. Ich tausche mich stattdessen mit Menschen aus, die genauso gerne wie ich verstehen möchten, wie wir Menschen so ticken.
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